Der Wunsch nach selbstständigem Leben | Berner Zeitung

2022-08-13 15:57:48 By : Ms. Sophia Tang

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Mittagessen im Schlossgarten Riggisberg. In den Gläsern leuchtet rosaroter Sirup. Es gibt Berner Platte mit Sauerkraut, Dörrbohnen, Speck, Schinken, Wurst und Kartoffeln. Gut ein Dutzend Menschen essen. Nur das leise Klirren des Bestecks ist zu hören. Geredet wird wenig. Julia Jaussi sitzt oben an einem Tisch, rechts von ihr René Jaussi, ihr Ehemann. Plötzlich beschimpft am Nebentisch ein Mann einen andern, der das schweigend über sich ergehen lässt. «Immer auf die Schwachen. Ich finde, der sollte allein an einem Tisch sitzen», empört sich Julia Jaussi. «Ja, er sollte besser allein an einem Tisch sitzen», wiederholt ihr Mann.

Rasch hellt sich Julia Jaussis Gesicht wieder auf, und sie beginnt zu erzählen: «René und ich waren eine Woche in Hofstetten in den Ferien. Zum ersten Mal allein.» Es sei so schön gewesen, zusammen einzukaufen, zu kochen und den Tag zu gestalten. «Wir würden gerne selbstständig leben. Ein Heim bleibt halt immer ein Heim», sagt sie. Er nickt: «Ja, selbstständig leben.» Das Ehepaar erwägt die Möglichkeit, probehalber in eine ehemalige An­gestelltenwohnung zu ziehen. «Dann schauen wir, wie es geht, und suchen dann etwas Eigenes, gell René?» Er stimmt zu: «Ja, dann suchen wir etwas Eigenes.» Gerade bei Streit sei es ungemütlich in der Wohngruppe. «Manchmal kochen wir uns etwas im Zimmer», sagt sie, und er wiederholt: «Ja, kochen uns selber ­etwas.»

In ihrem Doppelzimmer haben Jaussis eine Nespresso-Maschine. Nach dem Essen laden sie ein zum Kaffee. Die Räume sind vollgestopft mit Möbeln, auf einem Ständer trocknet Wäsche. Julia Jaussi zeigt an die Wand, wo ein Foto des Musikers Paddy Kelly hängt. «Ich bin so ein Fan von der Kelly Family», schwärmt sie und schwenkt zwei Tickets. «Im Januar gehen wir an ein Konzert.»

«Ein Heim bleibt halt immer ein Heim.»

Dann schlägt sie ein Album auf und zeigt die Hochzeitsfotos. Er im dunklen Anzug, sie im langen, weissen Satinkleid, beide strahlend. Ein Paar, das sich nicht als behindert empfindet und sich an seine Hochzeit erinnert. Er holt den Anzug und sagt. «Er ist schön. Aber ich sollte ihn in die Reinigung bringen.» Sie hält ihr Kleid in die Höhe: «Gestern habe ich es wieder einmal angezogen. Wahnsinn, diese Emotionen», seufzt die 34-Jährige und ärgert sich, dass die Schleppe schmutzig ist: «Die sind mir einfach mit dem Rollator darübergefahren.» Dann lacht sie wieder und sagt: «Als mich der René zum ersten Mal anschaute, bekam er Augen wie Scheinwerfer. Er hat geflirtet, aber ich auch.»

Die beiden tauschen verliebte Blicke. Auf die Frage, warum sie im Schlossgarten wohnen, folgt ein Moment Stille. Längeres Überlegen. Die Probleme hätten schon in der Schule angefangen, sagt er: «Ich bin in der 1. Klasse sitzen geblieben. Dann kam ich in eine Sonderschule.» Nach anderen Heimaufenthalten lebt der 50-Jährige nun schon seit 14 Jahren im Schlossgarten. Angesprochen auf die Gründe, meint er nur: «Die Lehrer liessen mich hängen.»

Lesen hat er nie gelernt. Deshalb ist er froh, dass seine Frau lesen und schreiben kann. Deren Geschichte tönt ähnlich wie seine. Auch Julia Jaussi musste die 1. Klasse wiederholen, landete in der Sonderschule und in verschiedenen Heimen. Seit 2003 ist sie in Riggisberg. Stolz erzählt sie, dass sie eine Haushaltungsausbildung absolviert habe. Gewünscht hätte sie sich für ihre Zukunft zwar ­etwas anderes. «Ich wäre gerne Polizistin geworden. Aber das geht nicht, weil ich keine Berufslehre gemacht habe.»

Die fehlende Ausbildung hindert das Paar nicht, regelmässig zu arbeiten. Der Schlossgarten bietet dazu verschiedene Möglichkeiten. Er arbeitet in der hauseigenen Recyclingwerkstatt des Schlossgartens, demontiert Velos, bündelt die Pneus, nachdem er sie geschickt von den Felgen genommen hat. Noch brauchbare Veloteile kommen in die eine Mulde, der Rest in eine andere. Alu zu Alu, Eisen zu Eisen, Räder und Pneus schön gestapelt. So brauche es weniger Platz, als die ganzen Velos. «Die werden nämlich nach Afrika geschickt. Dort fahren sie sie noch z Bode», erklärt René Jaussi.

«In Afrika fahren sie die Velos noch z Bode.»

Derweil ihr Mann in der Werkstatt schwarze Finger kriegt, beschäftigt sich Julia Jaussi im Glasatelier mit Feinarbeit. Sie klebt einen Streifen mit eingestanzten Buchstaben auf ein Glas, entfernt die Lettern. Diese werden lesbar, wenn das Glas in der Sandstrahlmaschine war. Die junge Frau sitzt mit zwei anderen am Arbeitstisch. Alle arbeiten hoch konzentriert.

Wer von den Bewohnerinnen und Bewohnern des Schlossgartens selbstständig genug ist, macht auch hie und da einen Ausflug ins Dorf. Das sorgt hie und da für Ärger (siehe Zweittext). Julia und René Jaussi wissen, dass es schon zu Konflikten kam, weil einzelne ihrer Mitbewohner im Dorf anecken, Zigaretten und Geld betteln, herumhängen, manchmal auch nachts. Sie finden das nicht gut, sind gut integriert. Auf einem Spaziergang hinunter ins Dorf Riggisberg erzählen sie von der Fasnacht, bei der sie immer dabei seien. «Wir haben einmal sogar einen Preis gewonnen, als wir als Polizisten verkleidet waren», erzählt Julia Jaussi, die sich schon auf die kommende Fasnacht freut.

Die beiden grüssen laut, wenn jemand entgegenkommt, winken dem Ambulanzfahrzeug zu und streicheln einen Hund, der freudig auf sie zustürmt. «Ich hätte gern einen Hund», sagt sie, wird ernst und berichtet von negativen Erfahrungen. «Manchmal verspotten uns Kinder und sind frech. Das Beste ist, wenn man da nicht reagiert.» Er wiederholt: «Ja, besser nicht reagieren, dann hören sie auf.»

Obschon die Riggisbergerinnen und Riggisberger es gewohnt sind, Menschen des Schlossgartens zu begegnen, erregt das Pärchen im Kaffee Aufmerksamkeit. Köpfe drehen sich, wenn Julia und René Jaussi laut drauflos plaudern. Wie ein Bub kommentiert er vorbeifahrende Autos, stellt etwa fest «Dieser Lastwagen hat Erde geladen, Erde ge­laden.» Und: «Dieses Postauto kommt von Toffen.»Die Fahrpläne kennen sie auswendig und finden, am schnellsten komme man über Toffen nach Bern. «Am liebsten gehen wir nach Thun», sagt sie.

Dann geht es wieder hoch zum Schlossgarten, zur Hauptprobe für das Weihnachtsspiel. Es ist unkonventionell, sehr einfach mit einem thematischen Rundgang zu Friede, Glaube, Liebe und Hoffnung. Maria und Josef kommen nicht vor. «Es gab immer Streit, weil alle Maria oder Josef sein wollten», erklärt Julia Jaussi. Sie steht mit ihrem Mann im Park, wo sie zwei Sätze aufsagen sollen. Bewohnende pilgern vorbei, im Rollstuhl, mit Rollator, am Arm von Betreuenden. Zusammen sagt das Paar einen Spruch auf, er spricht ihr jedes Wort nach. Beide strahlen und gehen im Gleichschritt in den Saal zu ihrem zweiten Auftritt. Danach ist es Zeit zum Abendessen in der Wohngruppe.

Frau Mader, Sie mussten schon Reklamationen hinnehmen, weil Bewohnende des Schlossgartens im Dorf für Ärger sorgen. Wie stellen Sie sich dazu? Regula Mader: Bei uns leben und arbeiten 273 Menschen mit einer psychischen und/oder geistigen Beeinträchtigung. Un­ser Auftrag ist es, diese Menschen zu begleiten und zu befähigen, möglichst selbstbestimmt zu leben. Wenn sie sich nicht so verhalten wie erwartet, sollen sie so behandelt werden wie andere Menschen auch. Insgesamt handelt es sich um einzelne, mit welchen es zu Konflikten kommt, beispielsweise wegen Suchtabhängigkeit. Sie versuchen, mit Mitteilungen im «Riggisberger Info», in Kontakt mit der Dorfgemeinschaft zu bleiben. Gelangen auch Leute direkt an Sie? Wir haben viele Kontakte mit der Bevölkerung von Riggisberg. Bei uns kommen Menschen ins Krafttraining, in die Physiotherapie, zur Coiffeuse, zum Essen ins Restaurant oder an eine Veranstaltung. Oder sie bringen ihre Kinder in die Kita. Hier gibt es eine Vielzahl von persönlichen Begegnungen und Kontakten. Trotzdem scheint es Konflikte zu geben. Was unternehmen Sie, um diese zu entschärfen? Die UNO-Behindertenrechtskonvention und unsere Gesetze verpflichten dazu, uns als Gesellschaft einzusetzen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen gleich behandelt werden wie andere. Im konkreten Einzelfall nehmen wir immer Kontakt auf mit den Beteiligten auf und suchen nach Lösungen. Freiheit und Selbstständigkeit der einen sollten andere nicht stören oder einschränken. Menschen wie das Ehepaar Jaussi, von dem der Haupttext erzählt, verstehen das, andere aber nicht. Werden die Schlossgarten-Bewohnenden auf soziale Regeln aufmerksam gemacht? Bei uns leben erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen so weit selbstbestimmt, als dies möglich ist. Sie verhalten sich nicht anders als andere Menschen. Der grösste Teil verhält sich den Normen entsprechend. Schon rein geografisch ist der Schlossgarten ein Dorf im Dorf, liegt etwas abseits. Was wird für mehr Kontakt mit dem Dorf getan? Wir sind eine offene Institution. Bei uns bewegen und begegnen sich unterschiedlichste Menschen verschiedenster Herkunft. Verschiedene unserer Angebote stehen bereits heute einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung und wir planen, noch weitere bereitzustellen. Die Öffnung meint aber auch, dass unsere Bewohnenden sich uneingeschränkt auch ausserhalb des Schlossgartens Riggisberg bewegen können. In beiden Fällen entstehen Begegnungen, die den Kontakt mit dem Dorf vertiefen. Was wäre Ihr Weihnachtswunsch für die Beziehungen zwischen Dorfbevölkerung und Schlossgarten? Ich wünsche mir, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner genauso ernst genommen und akzeptiert werden. Bevölkerung und Bewohnende sollen sich auf Augenhöhe begegnen. Was denken Sie, wünschen sich die Bewohnenden? Sie wollen genauso ernst genommen und akzeptiert werden wie andere Menschen auch. Und genauso selbstbestimmt leben können.

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